Fossilien

Phylogenese der Ceratiten

Bislang lag der Schwerpunkt der Ceratiten-Taxonomie auf der Berücksichtigung der Merkmale von Einzelindividuen, die zur Ausscheidung vieler Unterarten führte. Bei den in letzter Zeit durchgeführten Populationsanalysen (REIN 1988 a; b, 1999) wurde jedoch deutlich, dass sich die Variabilität lediglich auf Populationsebene erstreckt und dem Gehäusebau einfache genetische Grundmuster zugrunde liegen. Dabei wurde weiterhin sichtbar, dass grundsätzlich alle Individuen einer Population gemeinsame Zonenmerkmale haben und diese an den Zonengrenzen auch gemeinsam ändern. Dieser Merkmalswechsel vollzieht sich allmählich innerhalb eines Übergangsbereiches. Sind es anfangs in den Populationen nur einzelne Morphotypen mit den neuen Merkmalen, so haben umgekehrt am Ende des Übergangsbereichs nur noch wenige Individuen die alten Merkmale. Dieser allmähliche Wechsel der Zonenmerkmale erfolgt offensichtlich im Prozess einer ständigen morpho-physiologischen Anpassung an die sich ändernden ökologischen Bedingungen.
Im Verlauf ihrer phylogenetischen Entwicklung wird eine weitere übergeordnete Gesetzmässigkeit, nämlich der Wechsel gemeinsamer Phasenmerkmale, sichtbar (REIN 1996). Verändert sich die Morphologie innerhalb der Zonen in der Regel nur unbedeutend, so ist der morphologische Wandel beim Phasenwechsel bedeutsam. Er kann als Reaktion der Organismen mit einer veränderten biologischen Lebensstrategie mit Pädomorphose (das Erhaltenbleiben von Merkmalen jugendlicher Stadien der Vorfahren in späteren Stadien der Nachkommen) auf grundlegende ökologische Veränderungen wie Events gedeutet werden. Ein derartiges phylogenetisches Verhaltensmuster wäre somit eine Widerspiegelung der Evolution der unterschiedlichen Ontogeniestadien der germanischen Ceratiten und erklärt sich aus dem Bauplan eines Ceratitengehäuses.

Danach durchlaufen in der Frühontogenie alle Ceratiten ein Stadium, das anfangs völlig skulpturlos bleibt und erst zu einem späteren Zeitpunkt lediglich marginale Knötchenbildungen aufweist (1. Ontogeniestadium - unskulpturierte Morphen).
Darauf folgt die Ausbildung lateraler Knötchen, Knoten oder Fältchen, die anfangs im Verhältnis 1 : 3 (trichotom) und später 1 : 2 (dichotom) den marginalen Knötchen gegenüber stehen (2. Ontogeniestadium - dichotome Morphen).
Als letzte Stufe beim Bau des Ceratitengehäuses folgt die Ausbildung von Einfachrippen (3. Ontogeniestadium - einfachrippige [nodose] Morphen).
Die Phasenmerkmale legen demnach offen, in welches Ontogeniestadium die Geschlechtsreife durch Retardation (Verzögerung) oder Akzeleration (Beschleunigung) verlegt wird.

Ceratiten-Phasengliederung

Flexuose Phase

Das Schotterwerk RENA-Troistedt lieferte über einen Schichtkomplex von 7 Metern erstmalig horizontierte Belegstücke, die den von PHILIPPI (1901) mit Ceratites flexuosus bezeichneten Ceratiten in Form und Größe entsprechen. Der Nachweis von Tetractinella trigonella (= Trochitenbank 1 in Baden-Württemberg) ermöglicht zusätzlich ihre exakte altersmäßige Einordnung und Korrelierung mit weiteren Funden im Oberen Muschelkalk (OCKERT & REIN 1999). Ihr unmittelbares Einsetzen über Trochitenbank 1 belegt, dass es sich um die ältesten germanischen Ceratiten handelt. Lediglich der von KÖNIG (1920) als "C. sequens" publizierte flexuose Ceratit aus Nußloch (Baden-Württemberg) ist morphologisch und altersmäßig mit ihnen identisch.

Phasenmerkmal
Die sehr variable Ausbildung der Wohnkammerskulptur ist ceratitenuntypisch. Da überwiegend die Anzahl der lateralen den marginalen Skulpturelementen entspricht, kann sie dem 3. Ontogeniestadium (ähnlich der nodosen Phase) gleichgesetzt werden.

Dichotome Phase

Phasenmerkmal
Die Wohnkammer ist dichotom skulpturiert (ein Lateralknoten steht zwei Marginalknoten gegenüber), kann sich jedoch lateral bis zu völliger Skulpturlosigkeit abschwächen. Die dichotome Skulpturierung entspricht dem zweiten Ontogeniestadium, d. h. Geschlechtsreife und Wachstumsabschluss sind vorverlegt. Die Besonderheit in allen Zonen mit diesem Phasenmerkmal ist, dass sich jeweils zwei unterschiedliche Morphen, nämlich schwach und kräftig skulpturierte Individuen, übergangslos gegenüberstehen. Inwieweit es sich dabei um zwei Arten oder Geschlechtsdimorphismus handelt, bleibt noch ungewiss (REIN 1999).

Erste nodose Phase

Phasenmerkmal
Auf der Wohnkammer sind durchgehende Einfachrippen (nodos berippt) ausgebildet. Diese Skulpturierung entspricht dem dritten Ontogeniestadium, d. h. der dichotom skulpturierte Gehäuseabschnitt wird allmählich durch einen einfach berippten Abschnitt immer weiter überwachsen. Die Merkmale der zwei verschiedenen Morphen der dichotomen Phase werden damit immer weiter verdeckt, bleiben aber in jugendlichen Stadien erhalten.

Progenese Phase

Die evolutionäre Entwicklung der spinosen Ceratiten wird unterhalb der cycloides-Bank abrupt unterbrochen. Die großen, nodos berippten Ceratiten werden in der enodis/posseckeri-Zone faktisch übergangslos durch kleine, dichotome und unskulpturierte Jugendformen (erstes bzw. zweites Ontogeniestadium), abgelöst. Auffällig dabei ist, dass dieser Vorgang mit überaus variablen Morphen besonders im Thüringer Raum zwischen Eisenach und Weimar dokumentiert ist (REIN 1988a; 1996). Dieser Formenschnitt ist in der Ceratitenentwicklung einmalig und deutet ursächlich auf ökologische Grenzbelastungen hin. Das Stehenbleiben auf dem Niveau früher Ontogeniestadien kann als vorgezogene Geschlechtsreife (Pädomorphose durch Akzeleration = Progenese) gedeutet werden. Bei Progenesis behalten die Nachkommen die juvenile Morphologie der Vorfahren, da die Ontogenie durch die vorzeitige Geschlechtsreife beendet wird. Progenetische Organismen sind r-selektioniert (u. a. viele Nachfahren) auf schnelle Reifung in unvorhersagbar schwankenden Umwelten (GOULD 1980: 209).

Phasenmerkmal
Ebenso wie in der dichotomen Phase werden die zwei unterschiedlichen Morphotypen dichotom skulpturiert (C. posseckeri = zweites Ontogeniestadium) oder glatt bis schwach skulpturiert (C. enodis = erstes Ontogeniestadium) übergangslos sichtbar.

Zweite nodose Phase

Die anfängliche Variabilität der Formen wird, im Gegensatz zur ersten nodosen Phase, mit dem allmählichen Grösserwerden der Gehäuse immer geringer. Das Alter der Individuen nimmt zu.

Phasenmerkmal
Im Hangenden der cycloides-Bank beginnt die zweite nodose Phase. Sie ähnelt der ersten nodosen Phase, denn auch hier werden die jugendlichen Merkmale des ersten und zweiten Ontogeniestadiums durch die an Grösse und Kompaktheit zunehmenden einfachberippten Gehäuseabschnitte des dritten Ontogeniestadiums überwachsen.

Hypermorphose Phase

Mit den Veränderungen der ökologischen Bedingungen (immer umfangreichere Ton-Sedimentation) einher geht eine neue Überlebensstrategie der Ceratiten. Sie wird an zwei Besonderheiten am äußeren Erscheinungsbild sichtbar. Zum einen durch ein ungewöhnliches Größenwachstum und zum anderen durch zeitliche Streckung der schwach skulpturierten frühontogenetischen Gehäusespirale. Dieser Anpassungsprozess könnte aus Sicht der Pädomorphose mit einem relativen Hinauszögern (Hypermorphose) oder Verlängern der Geschlechtsreife gedeutet werden. Ebenso wie in der dichotomen und Progenese Phase kommt es auch hier wieder zum Sichtbarwerden der frühontogenetischen Gehäusemorphologie.

Phasenmerkmal
Obwohl die Alterswohnkammer einfach berippt bleiben kann, wird die frühontogenetische Gehäusemorphologie immer länger beibehalten. Dadurch wird das Gehäuse bis zur Endwohnkammer insgesamt schmaler, größer und relativ schwerer. Das hat zur Folge, dass der Marginalsattel immer weiter auf die Lateralseite verlagert wird.

Im Phylogenese-Schema sind die litho- und ökostratigraphischen Leitbänke Thüringens als punktuelle Ereignisse in der durchschnittlichen Schichtmächtigkeit des mo - Profils vermerkt (D-Bk = Döllstedt Bank; E-Bk = Marolterode Bank; A-Bk = Arnstadt Bank; G-Bk = Gänheim Bank; S-Bk = Schellroda Bank). In Korrelation dazu ist der zeitliche Rahmen der wichtigsten phylogenetischen Parameter der germanischen Ceratiten dargestellt. Die Spalte "E" und "P" verdeutlicht das Dimorphismus -Verhalten mit den sichtbaren (fett) und verdeckten (gestrichelt) frühontogenetischen Merkmalen in den Entwicklungslinien ohne sichtbare Tendenz zur Artaufspaltung. Die Biozonen vermitteln das Bild der fließenden Zonen-Übergänge. Sie machen deutlich, dass es sich nicht um Faunenschnitte, sondern um ein lückenloses ineinander übergehen von Chronospezies handelt. Chronospezies sind im Gegensatz zu Bio-Spezies keine realen Objekte.

Die biologische Seite der Phylogenese wird durch die unterschiedliche Reaktion der Organismen auf entscheidende Milieuänderungen offengelegt. An drei kritischen Zeitabschnitten belegen sie ihre große ökologische Potenz mit der Fähigkeit, durch Vorverlegung (Akzeleration) oder Hinauszögern (Retardation) der Geschlechtsreife Grenzbelastungen zu überstehen. Trotzdem überlebten sie im Zentrum Thüringens nicht die Schwelle zur semipartitus/meissnerianus -Zone (REIN 2001).